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Abraham Waelder,

Laupheimer Rabbiner in

Zeiten des Wandels

 

Von Rolf Emmerich, Laupheim

„Das Licht der Torah und die höchste der Tugenden waren in ihm vereint“

So lauter die deutsche Übersetzung einer von 34 Zeilen der hebräischen Inschrift auf Abraham Waelders Grabstein. „Er förderte Gutes und sprach Frieden allen, die ihm verbunden waren“, so eine weitere Zeile des Nachrufes. Die ungewöhnliche Ausführlichkeit und kunstvolle Gestaltung des Grabsteins — senkrecht gelesen ergeben die Anfangsbuchstaben ein Akrostichon mit dem Namen des Geehrten — weisen darauf hin, daß er bei seinen Zeitgenossen einen tiefen Eindruck hinterlassen hat.

Am 20. Juli 1808 wurde er in Rexingen geboren. Zu jener Zeit galt das gemeinsame Rabbinat Rexingens und einiger anderer Schwarzwaldgemeinden als ein Hort talmudischer Gelehrsamkeit. Man darf annehmen, daß Abraham Waelder bereits seit seinem frühen Kindesalter mit den hebräischen Texten des Talmud und der Torah beschäftigt war. Das lebenslange Lernen der heiligen Schriften des Judentums begann zu jener Zeit für männliche Kinder bereits im vierten, spätestens im fünften Lebensjahr. Da die „mündliche Überlieferung“ Talmud und die „Fünf Bücher Mose“ der Torah in Hebräisch gelesen wurden, war das Erlernen der „heiligen Sprache“ und ihrer Schrift für den gläubigen Juden immerwährende Aufgabe. Die darin auffallend begabten Kinder wurden schließlich besonders gefördert.

Abraham Waelder wurde 1836 Rabbiner, in einer Zeit großer Umwälzungen. Bis zum Jahre 1828 waren selbst die kleinsten Judengemeinden völlig frei in der Wahl ihrer geistlichen Oberhäupter gewesen; die Funktionen wurden oft vom Vater auf den Sohn vererbt. Schon Waelder, der nicht Sohn eines Rabbiners war, stellte hier eher eine Ausnahme dar. Die traditionelle Ausbildung beschränkte sich auf die Kenntnisse von Talmud und Torah, sowie ein Praktikum bei einem Amtsinhaber.  

 Der Grabstein Abraham Waelders auf dem Jüdischen Friedhof in Laupheim.

Jakob Kaufmann, Waelders Vorgänger in Laupheim, schreibt zu dieser Ausbildung: „Der Rabbiner hatte in früheren Zeiten keine Funktion, als die des religiösen Faches zu besorgen. Demgemäß war auch seine theologische Ausbildung beschaffen. Er mußte schon von Knabenalter an sich mit dem talmudischen Studium beschäftigen und oft acht bis zehn Jahre in Anstalten zubringen, welche außer den verschiedenen Zweigen der Theologie jeder anderen Wissenschaft der Eingang nie eingeführt war. Dem Studierenden war schon jede Gelegenheit genommen, sich in irgend einer anderen Wissenschaft eine Bildung zu verschaffen“. Abraham Waelder hatte diese langwierige Ausbildung alten Stils bereits absolviert, als sich durch das ‚Gesetz zur Gleichstellung der Juden“ im Jahre 1828 seine berufliche Perspektive schlagartig veränderte.

Dieses Gesetz sah eine völlige Neuordnung der Rabbinerausbildung vor. Nach § 52 des neuen Gesetzes mußten die Rabbiner nun „eine zeitgemäße Ausbildung“ haben. Dies hatte zur Folge, daß in Württemberg nach 1828 nur sechs dieser 51 Gemeindeoberhäubter im Amt bleiben durften. Ein Universitätsstudium wurde obligatorisch für alle künftigen rabbinischen Amtsträger der Judengemeinden; von Seiten der Regierung war offensichtlich die Gleichstellung der Rabbiner mit den christlichen Geistlichen angestrebt. Die 45 entlassenen Rabbiner verloren „über Nacht“ Amt und Existenz.

Für Abraham Waelder bedeutete dies, das Abitur nachzuholen und weitere Jahre an einer Universität zuzubringen. Nach einer kurzen Zeit an der Münchner Universität studierte Waelder ab Ostern 1833 in Tübingen „Mosaische Theologie“. Er war offenbar ein begabter und zielstrebiger Student. Schon im Sommer 1835 beantragte er „Dispensation von der Vorschrift des dreijährigen Universitätskurses zwecks Zulassung zur 1. Dienstprüfung der Rabbinatskanidaten“. Tatsächlich wurde dann das Examen bereits im November 1835 abgelegt. Damit hatte er die geforderten Auflagen erfüllt.

Von 1836 bis 1840 war Waelder als Rabbinatsverweser in Jebenhausen bei Göppingen, nach seiner zweiten Dienstprüfung dann Rabbiner in Berlichingen bis 1851. Die folgenden 25 Jahre bis zu seinem Tode am 5. April 1876 amtierte er in Laupheim und in der Filialgemeinde Ulm. In diese Zeit von Abraham Waelders 41. bis 66. Lebensjahren die wichtigsten Aktivitäten, die hier an exemplarischen Ereignissen geschildert werden.

Ein schwerer Dienstantritt erwartete den neuen Rabbiner in Laupheim. Über zehn Jahre lang hatte es zwischen der Laupheimer Kehilah und ihrem bisherigen Rabbiner Jakob Kaufmann erhebliche Streitigkeiten gegeben, die 1851 mit der Amtsenthebung des 69jährigen endeten. Dessen talmudisch-rabbinische Ausbildung und Ausrichtung entsprachen offenbar nicht mehr den Vorstellungen der Laupheimer Juden. Auf den jungen Nachfolger warteten eine schwierige Aufgabe und hohe Erwartungen. Mit dem raschen Wandel der religiösen, schulischen, wirtschaftlichen und bürgerlichen Verhältnisse veränderten sich die Aufgaben des Rabbiners. Das Berufsbild wandelte sich in wenigen Jahren vom „Lehrer und Richter der Gemeinde“ zum „Geistlichen“. Ein Teil dieser Entwicklung ging wohl auf die oben angesprochene Gesetzesmaßnahme des Staates zurück, ein erheblicher Anteil aber auch auf die geänderten Bedürfnisse und Aufgaben in den Judengemeinden Württembergs.

Vorher, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wirkte noch die völlige Ausgrenzung nach, unter der die Juden in Deutschland bis dahin leben mußten. Nun sollte auch im Gottesdienst deutsch gesungen und gesprochen werden. Nach 1838 mußte auch die Laupheimer jüdische Gemeinde durch Erlaß der königlich-israelitischen Oberkirchenbehörde an jedem Sabbat eine Predigt in deutscher Sprache hören: vor und nach dieser mußte mindestens ein Lied in Deutsch gesungen werden.

„Deutsch bedeutete damals das Eindringen des Weltlichen in die religiöse Lebensführung der meisten Juden, die hebräisch beteten und jiddisch (genauer: Judendeutsch) sprachen.“

Abraham Waelder war in Laupheim der erste Amtsinhaher, der nach Ausbildung und Persönlichkeit diesem Wandel entsprach. In seiner Bewerbung um die Laupheimer Stelle schreibt er am 1. September 1851 an die „königlich-israelitische Oberkirchenbebörde“ in Stuttgart entsprechend; „Die große Gemeinde Laupheim bedarf unzweifelhaft eines Geistlichen, der Lust, Neigung und Willen besitzt, eine zeit- und sachgemäße Wirksamkeit an den Tag zu legen und namentlich auch die Fähigkeit und den Willen besitzt, sich mehr als bisher geschehen sein dürfte, der gottgehörigen Jugend in pädagogischer Beziehung zu widmen.“ Er verwies dann noch auf seine Erfolge und Erfahrungen in seiner seitherigen Tätigkeit „auf schwierigerem und beschränkterem Terrain“. „Dem ich es daher untertänigst wage, die Bitte vorztirragen, daß das wiederzubesetzende Rabbinat Laupheim mir möchte gnädigst übertragen werden“. So schließt, in der Sprache jener Zeit, die Bewerbung. Kurz danach zieht der junge Rabbiner ins Obergeschoß des Rabbinats am Judenherg, heute Synagogenweg, ein.

Betrachten wir die Spuren von Abraham Waeders Wirken in Laupheim, so fällt auf, daß er zielbewußt und wie angekündigt handelte. Etliches deutet darauf hin, daß der junge Amtsinhaber, unterstützt von seiner Frau Caroline , seine Gemeinde überzeugen und begeistern konnte.

 

Pfarrer Betzler und der Rabbiner

Wie er über sich selber schrieb, war ihm die Erziehung der Jugend eine zentrale Aufgabe. Mit den beiden Schulräumen im Erdgeschoß des Rabbinats lagen ihm Schwierigkeiten und Chancen der jüdischen Schule auch räumlich sehr nahe. Zu dem katholischen Ortspfarrer Franz Seraftm Betzler, welcher der „Orts-Schul-Commision“ vorstand, fand Abraham Waelder durch ein beiden gemeinsames Interesse an der Entwicklung der Schulen in Laupheim. Schon bald wurde aus der Zusammenarbeit eine langjährige, äußerst produktive Freundschaft.

Nach 15 Jahren gemeinsamen Wirkens in Laupheim hielt der Rabbiner eine Rede am Grabe des Ortspfarrers; „mein Bruder“ spricht er ihn dabei an. Aus der Rede wird klar erkennbar: Die beiden Geistlichen gaben ihren Gemeinden ein gutes Beispiel des Zusammenlebens und des gemeinsamen Handelns. Lange vor Erfindung des Begriffes gab es in Laupheim den christlich-jüdischen Dialog. Die gute Erziehung der Kinder und Jugendlichen war auf beiden Seiten ein Hauptanliegen. Waelder betont in der Grabrede: „Dabei hat sich Deine nahezu stets unverändert gebliebene Humanität, Deine Toleranz gegen Andersdenkende und Andersglaubende aufs schönste bewährt.“ Und weiter bedankte er sich „für so manche Beweise von edlem Wohlwollen“ gegenüber der Judengemeinde und deren Schulen. Abraham Waelder lebte diese Ideale des jüdischen Reformers Moses Mendelsohn, die er an dem katholischen Amtsbruder hier preist, in gleicher Weise.

Wie weit die kulturelle Aktivität des Rabbiners greift, zeigt sich an seiner Förderung des „Lesevereins“ und in seiner ‚Beschreibung des Rabbinats Laupheim“. Darüber hinaus wird dies deutlich durch seine Freundschaft mit dem Dichter Berthold Auerbach und dem zugehörigen Briefwechsel.

In Waelders Amtszeit wird die Laupheimer Gemeinde mit 843 jüdischen Einwohnern im Jahre 1869 die größte Synagogengemeinde Württembergs. Die Schule im Rabbinatsgebäude erweist sich als zu klein; zielstrebig sorgte er für ein neues Schulgebäude in der Radstraße. Drei Klassenräume und zwei Lehrerwohnungen verbessern ab 1868 die Bedingungen der jüdischen „Konfessionsschule.  Bis dahin unterrichteten mangels jüdischer Lehrer teilweise auch katholische Lehrer die jüdischen Kinder. Der damals landesweit geschätzte jüdische Lehrer Alexander Elsässer folgte 1863 Waelders Ruf nach Laupheim. Die Zusammenarbeit ist so erfolgreich, daß dieser Lehrer nach seinen 24 Jahren in Laupheim von König Karl die Zivilverdienstmedaille verliehen bekam. Im Jahre 1868 sorgt Waelder für die Anstellung des gerade 18jährigen Laupheimers Moritz Henle als „Unter Lehrer“. Henle wird rasch auch der Chorleiter und Vorsänger der Gemeinde. Eine ausgezeichnete Wahl, wenn man an die spätere Laufbahn dieses jungen Talents als Komponist und Oberkantor in Hamburg mit betrachtet. Übrigens war bis zu diesem Zeitpunkt der Großvater des Religionsphilosophen Schalom Ben-Chorin,  Abraham    Rosenthal („Awremele“), als Vorsänger in der Laupheimer Synagoge aktiv gewesen.‘‘

Dank Waelders Weitsicht stellte die Judengemeinde die leer gewordenen Schulräume im Erdgeschoß des Rabbinats 1868 zur Einrichtung der neuen Laupheimer Lateinschule zur Verfügung. Hier wird nochmals deutlich, wie sehr dem — selbst ungewollt kinderlosen — Rabbiner an der Bildung der Jugend lag. Die Existenz gerade auch einer Lateinschule stand Laupheim gut an, als es schließlich im Jahre 1869 zur Erhebung des Marktfleckens Laupheim zur Stadt gekommen ist.

Die Ulmer Judengemeinde wuchs in den Jahren Waelders zunächst als Filialgemeinde Laupheims heran. Laupheimer, Buchauer und Buttenhauser Familien suchten in Ulm eine bessere Existenz. Die Ulmer Gemeinde nahm von zwölf (!) im Jahr 1832 auf 609 Personen im Jahr 1900 zu. 1873 wurde vom Laupheimer Bezirksrabbiner die neue Ulmer Synagoge eingeweiht. Von einem Vertreter des Königs bis hin zu einer „stattlichen Vertretung“ der Ulmer christlichen Gemeinden ist mit der Judengemeinde viel Volk bei dieser Feier. In seiner großartigen Predigt zu diesem Anlaß zeigt sich Abraham Waelder abermals als ein Geistlicher von weitem Horizont und großer Praktiker des Dialogs mit der christlichen Umgebung. In Abwandlung eines Salomonischen Textes betet er dabei. „... und wenn ein Anderer, der nicht zu dem Glauben sich bekennt, dem dieses Haus geweiht ist, sein Herz in Andacht ausschüttet, so mögest Du es hören im Himmel und tun wie er dich anruft und wonach sein Herz verlangt…  Wie wichtig auch dieses Anliegen des Rabbiners für die Gemeinde war, zeigte sich daran, daß sie die Predigt drucken ließ.

Noch in Waelders Todesjahr 1876 werden seine Reformvorstellungen an und in der Laupheimer Synagoge fortgesetzt. Bei der neuen Erweiterung wurden am neuen Vorraum zwei gedrungene Türme und zwei Schlag-Glocken eingebaut; im Inneren sind ein großes Harmonium und der Platz für den gemischten Chor, links vom Thoraschrein; weitere Neuerungen, die Abraham Waelder noch einleitete. Im Ganzen sind dies ungewöhnliche Baumaßnahmen: Türme an Synagogen sind bis heute eine Ausnahme, ebenso Glocken; bis heute ist außer der Laupheimer nur die Buchauer als zeitgenössische Synagoge bekannt, in der Glocken eingebaut wurden. Sie dienten hier freilich nicht kultischen Zwecken, sondern gaben nur den Stundenschlag. Ungewöhnlich ist auch das Harmonium und der gemischte Chor (ab 1870); beides ist bis auf den heutigen Tag in den meisten Synagogen nicht zugelassen. Für eine Landgemeinde waren die Laupheimer Juden unter Waelders geistiger Führung also nicht nur ausgezeichnet ausgestattet; sie befanden sich damit zugleich auch auf dem Wege einer moderaten Reform.

Anmerkungen

1 „Der jüdische Friedhof in Laupheim“, hg. vom Verkehrs- und Verschönerungs-Verein Laupheim und der Stadt Laupheim 1998.

2 Paul Sauer, „Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern“. Stuttgart 1966.

3 Gesetz zur „bürgerlichen Gleichstellung“ der württembergischen Juden vom 25.4.1828.

4 Staatsarchiv Ludwigsburg E 214 Büschel 94.

5 Der damalige Laupheimer Rabbiner Salomon Wassermann (1825-1835). Waelders Vorvorgänger im Amt, war übrigens einer jener sechs Amtsträger, die den neuen Maßstäben gerecht wurden.

6 Hebräisch für Synagogengemeinde.

7 Rabbiner Dr. H. Dicker, „Aus Württembergs jüdischer Vergangenheit und Gegenwart“, Gerlingen 1981, S.61.

8 Staatsarchiv Ludwigsburg E 212 Büschel 215.

9 Caroline Waelder, geb. 1. Jan. 1817, war Tochter des Brettener Rabbiners Veit Isaak Flehinger.

10 Staatsarchiv Ludwigsburg E 212 Büschel 146.

11 Schalom Ben Chorin. Ich lebe in Jerusalem“. 2. Auflage. Gerlingen 1983. S.9.

12 „Predigt zur Einweihung der neuen Synagoge in Ulm am Vorabend des Sabbaths. Ki Thabo 5633 am 12. September 1873, vorgetragen von Abraham Waelder, Rabbiner von Laupheim-Ulm“. Ulm (Gehr. Nübling) 1873.

 

 

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