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Dr. Hertha Nathorff geb. Einstein

geboren am 05. Juni 1895 in Laupheim - gestorben am 10. Juni 1993 in New-York

aufgenommen 1987 von Dr. Udo Bayer

Text von der Homepage des Carl-Laemmle-Gymnasiums von Dr. Udo Bayer

Dr. Hertha Nathorff hat ihrer ehemaligen Schule, dem Carl-Laemmle-Gymnasium, 1986 einen seitdem jährlich verliehenen Preis für das beste Abitur gestiftet. Wir möchten daher an sie mit folgendem Aufsatz erinnern.

Der wechselvolle Lebensweg von Dr. Hertha Nathorff, geborene Einstein aus Laupheim, kann in vielem als exemplarisch für das Schicksal des jüdischen Bürgertums in Deutschland stehen, und das Erscheinen ihrer Aufzeichnungen aus Berlin und New York 1933 bis 1945 im vergangenen Jahr vermittelt den direkten persönlichen Eindruck der entscheidenden Jahre, die dieser Biographie eine so einschneidende Wende gegeben haben. Am Schicksal dieser Familie lässt sich nachvollziehen, wie es demjenigen Teil der deutschen Juden mehrheitlich erging, dem es noch gelang, der physischen Ver­nichtung durch den Rassenwahn des NS­Regimes zu entrinnen und welche Drangsal dem nur zögernd gefassten Entschluss, Deutschland zu verlassen, vorausging sowie welche Schwierigkeiten sich den ins Exil Getriebenen in ihrer neuen Heimat - die doch nie zur richtigen Heimat wurde - entgegenstellten.

1940, auf dem Tiefpunkt ihrer Reise ins Exil, notierte die 45jährige in London: „Dieses Wartenmüssen, es hat uns um alles gebracht, alles, was wir an irdischen Gütern noch besessen hatten. Unsere Schiffskarten sind verfallen, unser Lift (Umzugsgut) in Holland ist verloren, weil wir jetzt den Transport in Devisen ein zweites Mal zu bezahlen hätten, da die Nazi-Räuber auch dieses Geld nicht transferiert haben. Auf fremde Hilfe und Güte sind wir angewiesen. . ." Von hier aus soll in diesem kleinen Abriss ihr Lebensweg zurück und vorwärts verfolgt werden.

Hertha Einstein, geboren 1895, verbrachte ihre Kindheit in ihrem Elternhaus am Marktplatz 4 in einer für das assimilationsbereite, wohlhabende jüdische Bürgertum der Jahrhundertwende typischen Umgebung, die geprägt war von Bildungswillen und Sinn für Kultur. Das Tagebuch beschäftigt sich mit Laupheim nur anlässlich gelegentlicher Besuche, weswegen die Kindheitserinnerungen dem zu entnehmen sind, was sich in ihrer Erinnerung über bald acht Jahrzehnte hinweg bewahrt hat und was sie in man­chem Brief sowie bei einem Besuch in New York im vergangenen Jahr erzählt hat; auch dies sind für nachgeborene Generationen, die kaum mehr einen jüdischen Mitbürger kennen, Zeugnisse einer versunkenen Vergangenheit. - So berichtet sie etwa von den freundschaftlichen Beziehungen ihrer Familie zu Angehörigen anderer Konfessionen, christliche Feste wurden mitgefeiert, und der Patriotismus zeigte sich an der uns in einem in Amerika geschriebenen Gedenkbüchlein für ihren Mann drückt sie ihr Verhältnis zu anderen Konfessionen und religion Hause fuhr und mit den Eltern und Geschwistern in unsere schöne, geliebte Synagoge ging und dass ich mein Jüdin-Sein nie verleugnen würde, aber Religion oder gar Religionen oder einen verschiedenen Gott für jede Religion - nein, das kann ich nicht glauben." Sicher spielte diese ihre Skepsis gegenüber einer Einteilung der Menschen nach ihrer Konfessionszugehörigkeit eine Rolle bei der häufig recht geringen Hilfsbereitschaft, die viele deutsche Juden aus der intellektuellen Oberschicht nach ihrer Emigration in die USA erfahren mussten. Die starke Identifikation des deutsch jüdischen Bildungsbürgertums mit der deutschen Kultur und vor allem mit der literarischen Tradition der Klassik zeigt sich in der aus der rückschauenden Erinnerung gewählten liebevollen Umschreibung des Bücher­schranks als „Hausaltar" mit der „vielbändigen kostbaren Weimarer Goethe-Ausgabe und all der Literatur, die wir beide mit der Liebe und sorgfältigen Auswahl des Sammlers in all den Jahren zusammengetragen haben".

Als erste Schülerin besuchte Hertha Einstein in Laupheim die Lateinschule, was damals für so ungewöhnlich galt, dass es nicht nur in Laupheim zu erregten Debatten führte, sondern auch die Stuttgarter Schulbehörde veranlasste zu verlangen, dass das Mädchen die Schule wieder verließ, „aber" - so erinnert sich Hertha Nathorff in einem Brief - „im nächsten Jahr schickte mich mein Vater wieder auf die Lateinschule, man begrüßte mich allseits sozusagen wie einen reuigen Sünder; anfangs war ich etwas ängstlich, ob ich nicht wieder hinausgeworfen werde, aber, o Wunder, nichts geschah." Nach vier Jahren, in denen sie häufig mit Preisen ausgezeichnet wurde, wechselte Hertha Einstein an ein Ulmer Gymnasium, um dort ihr Abitur abzulegen. Die glückliche Erinnerung an ihre Laupheimer Schulzeit hat sie vor einigen Jahren - trotz der sehr bescheidenen Verhältnisse, in denen sie leben muss - zu der großherzigen Geste veranlasst, dem Laupheimer Gymnasium eine Stiftung für einen jährlich zu verleihenden Preis zu überweisen.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der für ihren Jahrgang mit dem Abschluss der Gymnasialzeit zusammenfiel, bestimmte Hertha Einsteins weiteren Lebensweg mit; das Wort eines freiwillig einrückenden Freundes: „Jetzt siehst, dass du nur ein Mädel bist", an das sie sich noch heute erinnert, mag dazu beigetragen haben, dass sie statt des geplanten Musikstudiums sich für den Arztberuf entschied, um dort ihren Mann zu stehen und ihr humanitäres Engagement zu verwirklichen. Dass musikalische Begabung nicht nur in ihrem Elternhaus, sondern auch bei anderen Einsteins anzutreffen waren, zeigt der bekannte Musikwissenschaftler Alfred Einstein.

In ihrer Wohnung in New York hängen als einzige Erinnerung an Laupheim vier alte Portraits von Trägern des Familiennamens Einstein; in einem Artikel für den „Aufbau", die New Yorker Emigrantenzeitung, hat sie die Geschichte ihres Namens, wie sie von ihrem Vater - mit dem augenzwinkernden Zusatz: si non es vero, bene trovato - überliefert wurde, beschrieben: „Es war wohl um die Mitte des 17. Jahr­hunderts, als einmal ein junger Reisender aus dem Allgäu in unsere Gegend kam. Dort begegnete er zufällig einem hübschen jüdischen Mädchen, und es war Liebe auf den ersten Blick. Er bat auch den Vater des Mädchens, es ihm zur Frau zu geben, aber der Vater lehnte es völlig ab, da er keinen andersgläubigen Schwiegersohn akzeptieren würde. Traurigen Herzens trennten sich die Liebenden, aber sie sind irgendwie in Verbindung geblieben. Nach einem Jahr kam der junge Mann wieder und erklärte dem Vater, dass er die jüdische Religion angenommen habe und dieser also gegen die Heirat seiner Tochter nichts mehr einwenden könne. Der junge Ehemann entschloss sich aber, um alle Spuren zu verwischen, gleichzeitig mit der Eheschließung einen anderen Namen anzunehmen, und da er aus den Bergen, der steinigen Gegend bei Oberstdorf kam, wählte er den Namen Einstein."

Die Studienjahre, erst in Heidelberg, dann in Freiburg konfrontierten die Medizinstudentin zum ersten Male mit dem zunehmenden Antisemitismus: so musste sie von einem Professor hören: „Dass Sie Einstein heißen, ist hier keine Empfehlung für Sie!". 1923 wurde sie leitende Ärztin eines Entbindungs- und Säuglingsheims des Roten Kreuzes in Berlin; zusammen mit ihrem Mann, den sie im gleichen Jahr heiratete, führte sie außerdem eine Privatpraxis. Bereits im April 1933, als es im ganzen Reich zu dem von den neuen Machthabern inszenierten Boykott jüdischer Geschäfte, Anwaltskanzleien und Arztpraxen kommt, beginnt auch für das Ehepaar Nathorff die Diskriminierung, deren erschütternde Einzelheiten dem Tagebuch zu entnehmen sind; Laupheim findet hier nur gelegentlich Erwähnung anlässlich der seltenen Besuche bei der Familie. Aber auch hier registriert sie schon bei einem Besuch im Sommer 1933 die Anzeichen der beginnenden sozialen Ausgrenzung und der Feigheit mancher Mitbürger: „Der alte Vater sagte mir so nebenbei, dass er nicht mehr zu seinem Stammtisch gehe; Mutter regt sich auf, dass der und jener nicht mehr richtig zu grüßen wagt."

Bei einem Treffen mit Carl Laemmle, dem wohl bekanntesten gebbürtigen Laupheimer, der ein Vetter des Vaters von Hertha Nathorff war, erfährt sie eine für die Fehleinschätzung des Auslands hinsichtlich der Situation der deutschen Juden bezeichnende Äußerung: er fragt sich verwundert: „Aus Deiner guten Praxis willst Du heraus?", und er weist gleichzeitig auf die schlechten Arbeitsmarktchancen in Amerika hin - wie sie sie die Nathorffs sechs Jahre später selber erleben sollten.

Die Lage in Berlin ist in den folgenden Jahren zum einen gekennzeichnet von den staatlich verordneten Schikanen, zum andern aber auch von der Erfahrung der Niedertracht im persönlichen Umfeld - und sei es nur, dass Patienten die Begleichung des Honorars in Kenntnis der Rechtlosigkeit dem jüdischen Arzt verweigern. Doch sicher sind es auch positive menschliche Erfahrungen, die ebenso wie die erfreulichen Erinnerungen an die Jugendzeit bewirkt haben mögen, dass sich das Bild von Deutschland und den Deutschen in der Emigration nicht einseitig und düster darstellt, sondern dass vielmehr im Gespräch noch jetzt die rührende, vielleicht sogar etwas beschämende Anhänglichkeit an Deutschland spürbar bleibt.

1938 verlieren alle jüdischen Ärzte die Approbation. So reichen die Nathorffs im August 1938 beim amerikanischen Generalkonsulat die Bürgschaftserklärung ein, die Carl Laemmle für sie unterzeichnet hat, um die Emigration in die USA einzuleiten. In diesem schweren Entschluss wird die Familie durch die brutale Verhaftung von Dr. Erich Nathorff im Zuge des - verharmlosend als „Reichskristallnacht" bezeichneten - Pogroms vom November 1938 bestärkt; Erich Nathorff wird erst nach fünf Wochen Haft in Dachau, in denen Frau und Sohn um sein Leben bangen, wieder freigelassen - körperlich und seelisch gebrochen. Auch der alte, kranke Vater Einstein wurde in Laupheim ins Gefängnis gesperrt. Die folgenden Monate bis zur Abreise über England sind eine Kette von Demütigungen durch die Behörden, die in Gestalt eines staatlich organisierten Raubzugs das meiste des Vermögens der in die Emigration Gezwungenen beschlagnahmen - ganz abgesehen von der sogenannten „Sühneabgabe" nach dem Novemberpogrom; auch den Eltern wird ihr Grundbesitz in Laupheim genommen.

Dies also ist in groben Zügen die Geschichte der Familie bis zu dem eingangs zitierten Tiefpunkt in ihrem Leben. Den Eltern Einstein bleibt das Schicksal der Laupheimer Juden, die 1941 zunächst in Baracken in die Wendelinusgrube gepfercht und 1942 deportiert werden, erspart; sie sterben 1940. Sieben Einsteins aus Laupheim finden den Tod in Riga, Theresienstadt und Izbica.

Doch wie sieht der Neubeginn in New York aus? Laemmle ist tot, die Familie erfährt kaum Unterstützung von Verwandten oder Organisationen. Deutsche Examina werden nicht anerkannt, so muss sich Erich Nathorff zunächst auf eine amerikanische Prüfung vorbereiten, während seine Frau den Unterhalt und das Geld für eine Praxisgründung durch kümmerliche Gelegenheitsjobs in einer noch von wirtschaftlicher Depression gekennzeichneten und keineswegs freundlich gesonnenen fremden Umgebung verdienen muss, wo sie sich sogar einmal bei der Arbeitssuche als „lousy nazispy" bezeichnen lassen darf. Es gelingt Erich Nathorff auch wieder, eine Praxis aufzumachen, aber seiner Frau ist es wegen ihrer Mühe für die materielle Existenzsicherung der Familie nicht mehr möglich, die Voraussetzung für eine Zulassung zu ihrem geliebten Arztberuf zu schaffen. Aber sie hat noch die bewunderungswürdige Kraft zu einer Fülle sozialer Aktivitäten im Rahmen des New World Club, der sich um die Emigranten kümmert; sie ist als Psychologin tätig, gehört der Alfred Adler Mental Hygiene Clinic, der Virchow Medical So­ciety und der Association for the Advan­cement of Psychotherapy an; außerdem schreibt sie für Zeitungen, hält deutschsprachige Rundfunkvorträge. Kaum ist der Familie der Aufbau einer neuen Existenz einigermaßen gelungen, stirbt Erich Nathorff 1954.

Hertha Nathorffs vielfältiges Engagement findet 1967 auch von deutscher Seite eine offizielle Anerkennung durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes; doch sie selbst hat Deutschland nie wiedergesehen. Sie wohnte bis zu ihrem Tode 1993 in der 1942 bezogenen Wohnung in der Nähe des Central Park, wo auch die Praxis ihres Mannes war. Ihr Sohn ist 1988 verstorben, so dass sie sich im hohen Alter in der schmerzlichen Lage sah, als einzige der großen Familie Einstein in einer Umgebung, die ihr nie Heimat geworden ist, allein übrig geblieben zu sein. Durch Krankheit an ihre Wohnung gefesselt, hatte sie nur noch durch eine umfangreiche Korrespondenz Kontakt nach außen. Vor allem die große Resonanz ihres Tagesbuchs in Deutschland, auf das hin sich bei ihr Leser, die sie zuvor nicht kannten, meldeten, hat ihr gezeigt, wie groß das Interesse und die Anteilnahme an ihrem Schicksal und damit gewis­sermaßen auch am Leben all derer, die einst ein Teil der Deutschen waren, ist.

Dr. Udo Bayer

Aus dem, Buch : Das Tagebuch der Hertha Nathorff.

 1/2 10 abends. Es klingelt zweimal kurz und scharf hintereinander. Ich gehe an die Tür: „Wer ist da?“ – „Aufmachen! Kriminalpolizei!“ Ich öffne zitternd, und ich weiß, was sie wollen. „Wo ist der Herr Doktor?“ – „Nicht zu Hause“, sage ich – „Was? Die Portierfrau hat ihn doch nach Hause kommen sehen.“ – „Er war zu Hause, aber ist wieder weggerufen worden.“ (…) Doch in diesem Augenblick höre ich, wie die Türe zu unserer Wohnung aufgeschlossen wird. Mein Mann kommt – er kommt, der Unglückselige, in dem Augenblick, da ich ihn gerettet wähne. Und wie er geht und steht, führen sie ihn ab. „Danken Sie Ihrem Herrgott, dass Ihrer Frau nicht die Kugel im Hirn sitzt.“ (…) Ich renne ihnen nach auf die Straße. „Wohin mit meinem Mann, was ist mit meinem Mann?“ Brutal stoßen sie mich zurück. (…) Und ich sehe, wie sie in ein Auto steigen und davonfahren mit meinem Mann in die dunkle Nacht. 

Dieses Wartenmüssen, es hat uns um alles gebracht, alles, was wir an irdischen Gütern noch besessen hatten. Unsere Schiffskarten sind verfallen, unser Lift (Umzugsgut) in Holland ist verloren, weil wir jetzt den Transport in Devisen ein zweites Mal zu bezahlen hätten, da die Nazi-Räuber auch dieses Geld nicht transferiert haben. Auf fremde Hilfe und Güte sind wir angewiesen.

 

Ehrungen

Für ihr soziales Engagement in Deutschland und den USA wurde Hertha Nathorff 1967 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 1995 stiftete die Ärztekammer Berlin eine nach Hertha Nathorff benannte jährliche Auszeichnung für die besten Abschlussarbeiten in gesundheitswissenschaftlichen Studiengängen an der FU und TU Berlin.[3]

Literatur 

Hertha Nathorff: Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945. Frankfurt am Main 1997: Fischer. (2. Aufl.)

Einzelnachweise

  1. Sabine Kittel: Frauen im Holocaust – ein überfälliges Buch?  
  2. Carl-Laemmle-Gymnasium Laupheim: Der Preis für das beste Abitur, gestiftet von Hertha Nathorff
  3. Hertha-Nathorff-Preis für Absolventinnen und Absolventen der gesundheitswissenschaftlichen Studiengänge von TU und FU Berlin

Weblinks

    -    Literatur von und über Hertha Nathorff im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek (Datensatz zu Hertha NathorffPICA-Datensatz)

    -    Gerechte der Pflege: Hertha Nathorff

    -    Planet Wissen: Das Tagebuch der Hertha Nathorff (Auszug)

    -    Das Erste: Deutsche in Amerika. Teil 4: Ein Volk verschwindet. Schicksal des jüdischen Ärzteehepaares Nathorff.

Quellen:

    -    Wikipedia 

     -    Homepage des Carl-Laemmle-Gymnasiums

 

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