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Philo und die Synagoge - Dr. Leopold Treitel,

der letzte Rabbiner von Laupheim

Von Rolf Emmerich, Laupheim 


Wenn ein Stück socialen und nicht uninteressanten Lebens im Scheiden ist, dann tritt die Geschichte in ihr Recht, die scheidende Welt zu schildern, daß sie im Gedächtnis der Nachwelt fortlebe.

So schreibt der spätere Laupheimer Rabbiner Dr. Leopold Treitel einmal im „Breslauer Jahrbuch“1. Vor 69 Jahren ist dieses gelehrte Haupt der Laupheimer Juden gestorben; vor 62 Jahren wurde die Synagoge, sein Gotteshaus, in der sogenannten Kristallnacht geschändet und zerstört. Die Menschen seiner Gemeinde wurden gedemütigt, aus der Heimat verjagt oder verschleppt und ermordet. Leopold Treitel hat in seinen 36 Laupheimer Jahren sie alle beraten, gesegnet und getröstet. Nun gilt es, so über ihn zu erzählen, daß etwas davon „im Gedächtnis der Nachwelt fortlebe.“ 


 

 

Elternhaus, Schule und Ausbildung 

Leopold Treitel wurde am 7. Januar 1845 als eines der sechs Kinder von Joseph und Johanna Treitel in Breslau geboren. Der Großvater mütterlicherseits, Jakob Jehuda Falk, war zu seiner Zeit der berühmte Raw 2 von Dyhernfurt in Schlesien. Der galt bei seinen Zeitgenossen als große Leuchte talmudischer Gelehrsamkeit. Nach diesem Vorfahren hieß der Enkel schließlich Leopold Jakob Jehuda Treitel. Entsprechend der damaligen Tradition wurde der Junge bereits im Vorschulalter an das hebräische Schrifttum, an die Gebetssprache der Juden, herangeführt.  

Der Vater betrieb einen Handel mit Leder. Den jungen Leopold konnte er für diese Tätigkeit nicht gewinnen. Der Kaufmannsberuf ging an den Bruder Salomon weiter. Wegen Leopolds Neigung und Begabung empfahlen die Lehrer, den Jungen studieren zu lassen. Dazu kam eigens der Direktor des Elisabeth  Gymnasiums und bat die Eltern, den befähigten Knaben bis zum Abitur in der Schule zu belassen, da er sich wohl für einen Gelehrten, niemals zu einem Kaufmann eignen würde. So wird dies später im Nachruf beschrieben. 

Nach dem Abitur begann der Achtzehnjährige mit dem Studium der Altphilologie, Philosophie und Geschichte. Seine späteren Arbeiten belegen gute Sprachkenntnisse der hebräischen, griechischen, lateinischen, englischen und französischen Sprache. An der Breslauer Universität zählen große jüdische Gelehrte jener Zeit zu seinen Lehrern. Darunter sein Doktorvater Heinrich Graetz, dessen elfbändiges Standardwerk zur jüdischen Geschichte 3 noch heute nachgedruckt wird. Graetz war es wohl auch, der den jungen Wissenschaftler bewog, sich in der Dissertation mit dem antiken griechisch-jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien zu befassen. Am Breslauer „Rabbinerseminar Fraenkelscher Stiftung“, dem allerersten seiner Art in Deutschland, studierte Treitel teilweise parallel zur Universität, überwiegend jedoch nach seiner Promotion 1869. Eine jüdisch-theologische Fakultät war in Breslau, wie anderorts auch, nicht durchsetzbar. Das Rabbinerseminar fungierte aber durch parallel laufende Studien praktisch als solche. Professoren wie Heinrich Graetz und Rebekka Treitels Bruder Marcus Brann, die an der Universität und am Rabbinerseminar tätig waren, vermitteln uns diesen Eindruck.

Der Mitgründer und langjährige Direktor des Seminars, Dr. Zacharias Frankel 4, muß den angehenden Rabbiner sehr beeindruckt haben. Zeitlebens hing ein großes Bild des verehrten Lehrers über Treitels Schreibtisch. Da es im Judentum eigentlich keine Konfessionen, jedoch sehr unterschiedliche Denominationen oder religiöse Richtungen gibt, dürfte dies ein wichtiger Hinweis auf Leopold Treitels Standort sein.

Dr. Zacharias Frankel gilt bis heute - neben Professor Heinrich Graetz - als einer der Begründer der „Wissenschaft des Judentums“. Die religiösen Schriften, mit Ausnahme der Tora, und große Teile der Glaubenspraxis wurden in diesem Umfeld historisch kritisch bewertet. In der zugehörigen „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ (MGWJ; von 1851 bis 1938) hat der Laupheimer Rabbiner bis ins hohe Alter zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und Rezensionen veröffentlicht. Zacharias Frankel gilt noch heute als the ideological father of present-day Conservative Judaism 5. Er wird demnach als der geistige Vater einer sehr moderaten Reform angesehen.

 „Conservative Judaism“ ist heute die größte Gruppierung im Judentum der USA. Es zeigt sich darin eine nicht-orthodoxe Ausprägung des mosaischen Glaubens in der Nachfolge des Reformers Moses Mendelssohn.

Offensichtlich ließ sich auch Leopold Treitel von solchen Leitideen beeindrucken. Seine Schriften und Handlungsweisen zeigen dies.


Im Januar 1876 schloß er das Rabbinerseminar mit der Hattarah, dem Rabbinerdiplom, ab. Nach verschiedenen Stellen als Religionslehrer wird Leopold Treitel 1878 Rabbi­ner in Koschmin in der Provinz Posen, 1881 in Briesen/Westpreußen. Von 1884 bis 1894 ist er schließlich zweiter Stadtrabbiner in der badischen Hauptstadt Karlsruhe.

Philo und der Rabbiner 

Seit der Studienzeit an der Universität Breslau beschäftigte sich Treitel mit dem Werk des Philo von Alexandrien. Dieser lebte vom Jahre 25 vor bis zum Jahre 40 nach christlicher Zeitrechnung. Der israelische Historiker Menahem Stern schreibt über die Bedeutung von Philos Werk: Seine Logos-Lehre, die Verbindung von Philosophie mit seiner ausgeprägten religiösethischen Grundhaltung und sein Versuch, das griechische Denken mit der Offenbarungsreligion in Einklang zu bringen, sichern ihm einen Platz unter den führenden Autoren der Religionsgeschichte. Er ist in der Tat einer der großen Wegbereiter der gesamten späteren Theologie 6. Mit diesem Großen der Religionsge­schichte hat sich der Laupheimer Rabbiner mehr als 50 Jahre wissenschaftlich beschäftigt; in späteren Jahren auch zunehmend kritischer auseinandergesetzt. 

Nach der Dissertation über Philos Sprache im Jahre 1869 veröffentlichte Treitel zahlreiche Artikel und zwei Bücher über den antiken Philosophen. Das alte jüdische Ideal lebenslangen Lernens wird hier exemplarisch sichtbar. Das abschließende Buch über Die gesamte Theologie und Philosophie Philos von Alexandria 7 veröffentlichte der alte Rabbiner im Jahr seiner Pensionierung mit 78 Jahren. Beim Berliner Verlag C.A. Schwetschke war er damit gleichzeitig mit Leo Baeck und Ismar Elbogen im Programm. 

Es würde an dieser Stelle natürlich zu weit führen, Leopold Treitels Philo-Rezeption nachzuzeichnen. Schließlich handelt es sich um das Lebenwerk des rabbinisch, philosophisch und philologisch hochgebildeten Autors und war offenbar nur für einen engen Kreis einschlägig Interessierter geschrieben. Während die Dissertation nach damaliger Vorschrift noch lateinisch verfaßt ist, wurden die späteren Arbeiten in deutscher Sprache geschrieben. Sie sind jedoch reichlich mit griechischen, lateinischen, hebräischen und englischen Zitaten versehen. Frühere und zeitgenössische Autoren werden durchweg in ihrer eigenen Sprache zitiert. Oft finden sich bis zu vier Sprachen auf einer Buchseite. Der Kontrast zwischen dieser Welt und der ländlichen Kleinstadt Laupheim konnte schwerlich stärker sein. Schließlich war ja auch Treitels Arbeit in Synagoge, Schule und für die Familien weitab von seiner Wissenschaft.

Eine kleine Sequenz über die Bedeutung des Sabbat, aus Treitels zweitem Philo-Buch, mag einen Einblick in die angewandte Arbeitsweise geben. Philos Auffassung wird dabei im Kontrast zu derjenigen des Maimonides (Moses Ben-Maimon, auch RAMBAM genannt) aus dem 12. Jahrhundert betrachtet: Da ist es denn Philo gewesen, der als glücklicher Fortsetzer der Theologie der Propheten, klar und bestimmt zum ersten Male die Idee von der sozialen Institution des Sabbats aufgestellt hat, mit Abstreifung alles Nationalen, ihr weltumfassend Bedeutung gebend, indem er die Segnungen des Ruhetages des Herrn nicht mehr bloß das einzelne Land, das einzelne Volk, vielmehr die Heidenwelt so gut wie das Volk der Offenbarung teilhaben läßt 8. Unser Rabbiner erläutert dazu: In der Darlegung der sozialen Ordnung der mosaischen Gesetzgebung ist Philo besonders ausführlich. Es kommt ihm darauf an, den universalistischen Zug der mosaischen Gesetzgebung an derselben darzutun.

Dem stellt Treitel die talmudische Auslegung des Sabbat gegenüber als eine theokratische Einrichtung; er ist dort gleichsam Tatausdruck für das Verhältnis von Mensch zu Gott, ist nach den besonderen Beziehungen Israels das Band zwischen Gott und Israel. Da ist es schon Selbstzweck, sich des Rechts der Bearbeitung der Dinge dieser Welt für die Sabbatzeit zu begeben. Gleichsam als Beleg für diese Sicht zitiert Treitel den großen Maimonides: Nichts Eindringlicheres, Wirksameres als den Sabbat für die Einprägung der Religionswahrheiten gibt es als Tatausdruck; ohne solchen schwebt die religiöse Idee gleichsam in der Luft.

Auch wenn es bei diesem kurzen Text so scheinen sollte: Der Laupheimer Rabbiner argumentiert hier und an anderen Stellen seiner wissenschaftlichen Abhandlung nicht mit Philo gegen Maimonides oder umgekehrt. Vielmehr bewegt er sich hier in einer undogmatischen jüdischen Tradition; zwei Anschauungen werden ohne Wertung nebeneinander dargestellt. Im Talmud z. B. finden wir dazu viele Schriftstellen. 

Leopold Treitel ist es, dank seiner philosophischen und rabbinischen Gelehrsamkeit möglich geworden, die Bedeutung des großen Alexandriners für das Judentum zu klären. Auffallend ist, daß unser Autor wohl der erste jüdische Gelehrte in Deutschland war, der sich so vertieft über Jahrzehnte dem griechisch-jüdischen Philosophen widmete. Die Anstöße seiner akademischen Lehrer Frankel und Graetz standen wohl am Anfang. Es ist anzunehmen, daß sich Treitel an Philos Betonung der sozialen Ordnung des jüdischen Lebens begeisterte. Wichtig scheint dabei aber auch die universale Deutung der mosaischen Texte, also auch für Menschen anderen Glaubens, zu sein.

Die Laupheimer Synagoge, 1936 als Aquarell gemalt von Hermann Stumpp. Mit ihren Türmen für zwei Glocken und einer Orgel im Inneren glich sie beinahe einer Kirche. Zerstört in der „Pogromnacht“ 1938

Rabbiner in Laupheim

Als Dr. Leopold Treitel im März 1895 in das Rabbinat am Laupheimer Judenberg einzog, war nicht zu erkennen, daß er der letzte Rabbiner dieser Stadt sein würde. Mehr als 28 Jahre übte er dann sein Amt aus; mit der großen Gewissenhaftigkeit und dem starken Einsatz, der ihm eigen war. Acht Jahre lebte er dann noch, geehrt und geachtet, in mitten seiner Gemeinde im Ruhestand. Es war dies die längste Zeit eines Rabbiners in Laupheim.

Vorher war Treitel über zehn Jahre zweiter Stadtrabbiner und Religionslehrer in Karlsruhe gewesen. Gemeinsam mit seiner Frau Rebekka betreute er dort ein Internat für auswärtige jüdische Schüler und hielt öffentliche Vorträge. Ein Ergebnis beider Bemühungen mag sein, daß er in jener Zeit zwei Jugendbücher schrieb; jeweils zu biblischen Überlieferungen. Eines davon, Rahab, die Seherin von Jericho 9, schildert dramatische Tage im Leben einer jungen Frau, die beim Einzug des jüdischen Volkes in das Gelobte Land ein Schlüsselrolle übernimmt. Der eigene Entschluß und die Entscheidung nach dem eigenen Gewissen steht im Mittelpunkt der Erzählung. Der Autor zeigt offenkundige Sympathie für die geschichtliche Leistung dieser Frau, ja von Frauen überhaupt. Ob er damit helfen wollte, eine Lücke im überlieferten Geschichtsbild zu schließen? Denkbar wäre es. Zu der Geradlinigkeit und dem historisch-kritischen Geschichtsbild des Rabbiners würde das passen. Jedenfalls war diese Darstellung in seiner Zeit recht ungewöhnlich.

Die Laupheimer Judengemeinde hatte 1895 nur noch 381 Mitglieder, davon immerhin 65 Schüler. Verglichen mit den 732 Seelen dieser vormals größten Judengemeinde Württembergs ein Riesenverlust in wenigen Jahren. Auswanderung nach Amerika, aber auch Abwanderung in die Städte Ulm, Stuttgart und München wirkten sich seit 1869 entsprechend aus. Der Laupheimer Chronist August Schenzinger schrieb unter diesem Eindruck, daß in wenigen Jahrzehnten mit dem gänzli­chen Abgang der Judengemeinde gerechnet werden müßte. 10 Dennoch traf der neue Rabbiner eine lebhafte Gemeinde an. Der Kantor Emil Dworzan war in der gesamten Amtszeit des Rabbiners als Vorsänger im Gottesdienst, als Religionslehrer der unteren Klassen und als Chordirigent tätig. Bis 1907 leistete sich die Gemeinde auch den christlichen, hauptamtlichen Organisten Reinhold Spaether; der langjährige Gemeindevorsteher Simon L. Steiner übernahm danach den Dienst an der Synagogen-Orgel. Ein Glücksfall besonderer Qualität beschert uns heute noch Originaltöne aus Leopold Treitels Laupheimer Zeit 11. Die Baritonstimme des Kantors Emil Dworzan, von Simon L. Steiner an der Orgel begleitet, wurde 1920 mit 35 Gesängen auf Tonträgern konserviert.

Rabbiner Treitel predigte an jedem Sabbat in der Synagoge. Er führte den Talmud-Thoraverein, in dem man sich zu religiösen Vorträgen traf, und er gab Religionsunterricht für jüdische Schüler der Latein- und Realschule. Der Religionsunterricht Dr. Treitels galt wie seine Predigt als hoch anspruchsvoll. Beides war sehr anstrengend, berichtet einer seiner damaligen Schüler. Die Vorbereitung der Jungen auf Bar-Mitzwah und der Mädchen auf Bat-Mitzwah, in Laupheim „Konfirmation“ genannt, war eines der großen Anliegen des Rabbiners. Mehrere Generationen junger Laupheimer sind von ihm unterrichtet und in den Glauben ihrer Vorfahren eingeführt worden.

Er besuchte die Familien bei freudigen und traurigen Anlässen; er sammelte Spenden für die Armen. Ging er durch Laupheims Gassen, hatte er in den unergründlichen Taschen seines langen schwarzen Gewandes immer ein paar Zuckerle (Bonbons) für die Kinder. „Ob das Juden- oder Christenkinder waren, das spielte bei unserem Rabbiner dann keine Rolle“, schrieb mir der Chronist der einstigen Judengemeinde, John Bergmann aus USA. Nach oberschwäbischem Brauch hatte der jüdische Gesangverein Frohsinn auch eine Theatergruppe. Im Winter, und besonders an Purim, wurden lustige Theaterstücke und Sketche aufgeführt. Rabbiner Treitel war dabei oftmals das Ziel witziger Szenen. „Der konnte herzhaft mitlachen“, berichtet ein damaliger Mitspieler, wenn seine Gesten und die gelehrte Redeweise nachgespielt wurden.

Es mag heute erstaunen, doch die Rolle des Rabbiners scheint zur Amtszeit Treitels weitgehend derjenigen von Pfarrern der christlichen Kirchen entsprochen zu haben. Bei nä­herer Betrachtung zeigt sich nur, daß es vor allem im Gottesdienst eine besondere Rollenteilung zwischen Rabbiner und Vorsänger gab, die darauf hinweist, daß im Judentum keine Priesterschaft im üblichen Sinne existiert. Wie gut das Verhältnis von der jüdischen Gemeinde zur katholischen Mehrheit Laupheims war, zeigt z. B. die Tatsache, daß der Vorsänger-Kantor neben dem gemisch­ten Synagogenchor und dem jüdischen Männer-Gesangverein Frohsinn über zehn Jahre auch den katholischen Gesangverein „Konkordia“ dirigierte. Der Rabbiner Dr. Treitel lebte damit sicher im besten Einverständnis. Zeitzeugen berichten, daß Treitel neben dienstlichem auch privaten Kontakt zum katholischen Stadtpfarrer hatte. Die dienstliche Begegnung ergab sich z. B. durch das „katholische Schulinspektorat“, in dem der katholische Geistliche die Schulaufsicht über die „Israelitische Volksschule“ ausübte. Privat wurden Pfarrer und Rabbiner mehrfach beim gemeinsamen Schachspiel gesehen.

Die Familie des Rabbiners

Am 31. Mai 1882 heiratete Leopold Treitel die 1856 geborene Rebekka Brann. Die junge Frau stammte aus der Familie des Rabbiners Salomon Brann in Schneidemühl. Für ihre Zeit war sie eine ungewöhnlich gebildete Frau. Sie hatte nach ihrer Lehrerausbildung bis zur Heirat an der höheren Mädchen-Schule in Schneidemühl Fremdsprachen unterrichtet. Die Gemeindearbeit und die umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten Treitels sind ohne Frau Rebekka schwerlich vorstellbar. Unabhängig von ihrem Mann war sie zudem als Schriftstellerin und Übersetzerin tätig. Eine Erzählung über die erste Ansiedlung Laupheimer Juden, Buchübersetzungen aus dem Englischen 12 und Gedichte sind von ihr überliefert.

Während der Karlsruher Jahre betreute das Ehepaar Treitel das Internat für jüdische Schüler. Besonders Frau Treitel scheint diese Aufgabe zuzufallen. So wird sie auch später in Laupheim einen Sonntagsunterricht für die Mädchen der Gemeinde betreiben. Goethe, Schiller und andere Klassiker hat sie mit uns gelesen; natürlich auch die Bibel, so sagte mir eine der damaligen Sonntagsschülerinnen. 

Rebekka Treitel setzte damit eine Tradition ihrer elterlichen Familie fort, von der sie selber profitiert hatte: Ihr Vater, Rabbiner Sa­lomon Brann, führte jüdische Ausbildung für Mädchen ein und lehrte bis kurz vor seinem Tode. Die Tochter erhielt auch vom Vater die Einsegnung zur Bat-Mitzwah oder Konfirmation, wie ihr Enkel Henry berichtet. Ältere Laupheimer erzählen, Rebekka Treitel habe etlichen Schülern der Stadt kostenlos Nachhilfeunterricht in Englisch und Latein erteilt; die Konfession habe dabei keine Rolle gespielt. „Sonst hätte sich meine Familie das nicht leisten können“, sagt einer der damaligen Schüler.

 

Leopold und Rebekka Treitel 1921 mit ihren Söhnen (v.l.)Emil, Otto und Erich


Noch in Karlsruhe wurden die beiden ältesten Söhne Otto Jehoschua und Emil Ephraim geboren. Otto der Botanik-Professor und Emil der Arzt werden später, trotz Tapferkeitsorden aus dem Ersten Weltkrieg, nach der sogenannten Kristallnacht ins Konzentrationslager verschleppt. Nach dieser brutalen Demütigung mußten sie mit ihren Familien aus Deutschland flüchten.

Der jüngste Sohn Erich Josef, 1897 in Laupheim geboren, wurde Elektro-Ingenieur. Erich Treitel erkannte die braune Gefahr rechtzeitig. Mit seiner Frau Rosa und Sohn Sven wanderte er bereits 1934 nach Spanien und später nach Argentinien aus. Als seine Mutter Rebekka 1936 starb, versuchte er mehrmals, ein Einreisevisum zur Beerdigung in Laupheim zu bekommen. Als Jude bekam er dazu von den Nazi-Behörden keine Chance.

Der Ulmer Bezirksrabbiner Dr. Cohn beschrieb 1931 die Atmosphäre im Hause Treitel: Fast regelmäßig war ich bei ihnen am Freitagabend zu Gaste, und die Stunden, die ich in Gesellschaft dieser beiden prächtigen, so überaus gütigen alten Leute verleben durfte, waren wirkliche Sabbat-Stunden für mich und werden mir in unvergeßlicher Erinnerung bleiben. Erhebend und rührend zugleich war es, wenn der hochbetagte, greise Rabbiner mit immer noch wohltönender Stimme die vertrauten Freitag-Abendgesänge und den Kiddusch 13 anstimmte. Da erschien meinem Geist die Zeit, da noch die Söhne bei den Eltern weilten und wie Ölbaumpflanzen den Tisch umrankten.

Der Tod Leopold Treitels kommt direkt nach einem solchen Freitagabend. Zusammen mit der angereisten Schwiegertochter Rosa begeht er noch froh und zufrieden den Kiddusch zum Sabbatanfang. In der Nacht hat er einen schweren Schlaganfall, aus dem er nicht mehr voll zu Bewußtsein kommt. Den nächsten Sabbat erlebt der Rabbiner nicht mehr. Die aus Mannheim, Berlin und Freiburg herbeigeeilten Söhne beten ihm am 4. März 1931 morgens gegen vier Uhr den Kaddisch, das jüdische Sterbegebet. 

Der Stuttgarter Stadtrabbiner Dr. Rieger beschreibt in einer langen Würdigung Dr. Treitels auch die Trauerfeier in der Laupheimer Synagoge. Da heißt es: Ein feierlicher Ernst waltete in dem ehrwürdigen Gotteshause, in dem vor dem Altar die sterblichen Überreste des letzten Laupheimer Rabbiners aufgebahrt waren. Ein frostiger Wintermorgen lugte durch die wundervollen Fenster des Gotteshauses, die Friedrich Adlers Meisterhand geschaffen hat. Draußen, soweit das Auge reicht, das weiße Bahrtuch des Schnees. Drinnen im Hause die tieftrauernde Gemeinde. 

Drei Rabbiner und die christlichen Stadtpfarrer begleiten die Trauergemeinde zum nahen jüdischen Friedhof. Dort singt der Laupheimer Synagogenchor Louis Lewandowskis Vertonung des 91. Psalms: Der da sitzt im Schutz des Höchsten. Ja, für den Rabbiner Leopold Treitel mag das ein zentrales Motto gewesen sein. 

Wer heute das Grab des letzten Rabbiners auf dem gut gepflegten Laupheimer Judenfriedhof sucht, der findet nicht das gewohnte Einzelgrab. Noch über den Tod hinaus haben Leopold und Rebekka Treitel ein unorthodoxes Zeichen gesetzt. Sie entschieden sich, schon zu Lebzeiten, für ein gemeinsames Doppelgrab.

Anmerkungen:

 1.         Jahrbuch zur Belehrung und Unterhaltung, Breslau 1891

 2.         Alte hebräische Bezeichnung für den Rabbiner.

 3.         Heinrich Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten, 11 Bde., 6744 S.; Nachdruck 1996

 4.         Hans Küng, Das Judentum, München 1991, S. 522

 5.         Michael A. Meyer, Response to modernity, New York/Oxford 1988, S. 84ff

 6.         Menahem Stern, Die Zeit des zweiten Tempels in „Geschichte des jüdischen Volkes“, 3. Auflage, München 1994, S. 363

 7.         Leopold Treitel, Die gesamte Theologie und Philosophie Philos von Alexandria, Berlin 1923

 8.         Leopold Treitel a.a.O. S. 72 ff

 9.         Leopold Treitel, Rahab die Seherin von Jericho, Leipzig o.J.

 10.       August Schenzinger, Beschreibung und Geschichte Laupheims samt Umgebung, Nachdruck Laupheim 1987, S. 255

 11.       Rolf Emmerich, Synagogale Musik aus der Laupheimer Judengemeinde, in BC - Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach Nr. 1/1992, S. 44ff

 12.       Elma Ehrlich Levinger, Erzählungen zu den jüdischen Festen, Übers.v. R. Treitel-Brann, Leipzig 1922

 13.       Segen zum Sabbat über Brot und Wein

 

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